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Dunkelkaufhaus © Sabine Glinke

Wetzlarer Dunkelkaufhaus setzt auf die Sinne Fühlen, Riechen, Schmecken und Hören

Wie Sie sehen, sehen Sie nichts. Gar nichts. Und nein, die Augen gewöhnen sich nicht an die Dunkelheit, wenn man sich tatsächlich in völliger Finsternis befindet. Um mich herum ist es schwarz, ganz schwarz. Ich weiß nicht, wo ich bin, ich weiß nicht, was mich erwartet. Während das bei einigen sicher Panik auslösen würde, finde ich das Ganze extrem entschleunigend. Durch den „Verlust“ des Sehsinns konzentriert sich mein Körper deutlich mehr auf das, was ansonsten um mich herum passiert, was es zu fühlen, riechen, erleben und hören gibt. Und das ist Einiges – hier, im Wetzlarer Dunkelkaufhaus.

Als „Nichtsehenswürdigkeit“ bezeichnet sich das Kaufhaus, das kein Kaufhaus ist, weil man hier gar nichts kaufen kann. Völlig zu Recht. Denn hier gibt es definitiv nichts zu sehen. Doch genau das ist das Thema in den drei Erlebnisräumen, die das Dunkelkaufhaus seinen Besuchern bietet. Es geht um Sinneswahrnehmungen, darum, den Besuchern zu zeigen, wie man diese schärfen kann. Und zu realisieren, wie es ist, sich nicht auf den Sehsinn verlassen zu können. Darauf will ich mich heute einlassen, und kaum hat mich Thomas Brendel durch die Tür in den ersten Erlebnisraum eingelassen, tappe ich völlig im Dunkeln. Auf meinen Guide, der die Räume aus dem Effeff kennt, muss ich mich ab nun blind verlassen können. „Immer links an der Wand entlang“, sagt Brendel zu mir, von dem ich nur anhand der Stimme erahnen kann, wie weit entfernt von mir er sich befindet. An der Wand befinden sich Absätze, Vorsprünge, es geht um Ecken, gibt verschiedene Oberflächen. Ich ertaste glatte Farbe, dann wieder Tapete, hier und dort taucht eine Zierleiste auf. Brendel fordert mich auf, stehenzubleiben, jetzt kommt eine Übung, mein Hörsinn ist gefragt. Brendel spielt mir verschiedene Alltagsgeräusche vor und ich soll sagen, was das ist. Einfach, denke ich. Schon folgt das erste Hörbeispiel – und ich liege schon gleich beim ersten Geräusch daneben.

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Dunkelkaufhaus © Sabine Glinke

Berufe „erfühlen“

Weiter geht es in den nächsten Raum, hier soll ich meinen Tastsinn erproben. Es gilt, verschiedene Kombinationen von Gegenständen zu ertasten und diesem schließlich einen Beruf zuzuordnen. Das fällt mir nicht sonderlich schwer, mein Problem ist ein anderes: Die Wiedergabe des Gefühlten soll in der richtigen Reihenfolge erfolgen. Es sind zwar nur neun Berufe, dennoch fällt es mir unglaublich schwer, mir das Ganze zu merken. „Sind Sie sicher?“ fragt mein Guide und ich merke, wie schnell man sich in die Irre führen lässt. Über meinen Tastsinn ist er positiv überrascht: „Was denken Sie, wie viele Leute hier völlig falsch liegen?“

Lesen ohne sehen zu können

Der Weg durchs Dunkelkaufhaus wird zusehends komplexer. Ich muss etwa eine Stufe hinab, oder durch einen schweren Vorhang. „Lesen Sie jetzt bitte den Spruch an der Wand!“ fordert mich Brendel auf und ich starre an die Wand, in der Hoffnung, dass dort irgendwo Leuchtschrift auftaucht. Natürlich nicht – auch hier muss ich mit meinem Tastsinn arbeiten.
Dunkelkaufhaus
Dunkelkaufhaus © Sabine Glinke

Gefühl der Entschleunigung

Zum Schluss der Tour geht es an die Bar – ich klettere im Dunkeln auf einen Barhocker, nehme an der Theke Platz und bekomme von Thomas Brendel ein Getränk serviert. Hier, im Dunkeln, an der Bar, bin ich ganz bei mir selbst. Wir unterhalten uns – und auch das ist, ohne dass man die Gemütsregungen des Gegenübers sieht, eher ungewohnt. Hatte ich anfangs Bedenken, dass mich die Dunkelheit verstören würde, erfahre ich, hier im Finsteren an der Bar sitzend, echte Entschleunigung. Mal ein paar Minuten die Augen zu entspannen und sich zurückzulehnen, tut mir sichtlich gut – frei von optischen
Reizen, frei von der Hektik des Alltags. Als ich die Dunkelheit verlassen muss und ins helle Licht trete, fühlt sich das komisch an – fast so, als hätte mich die Dunkelheit wie eine schützende Hülle umgeben, die mich jetzt wieder in den Alltag spuckt, der mich von allen Seiten verwundbar macht.
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Dunkelkaufhaus © Sabine Glinke

Tastings & Menüs

An der Dunkelbar steht normalerweise das Thema Schmecken im Vordergrund. Genießen die Besucher auf einer regulären Führung „nur“ ein Getränk, bietet das Dunkelkaufhaus verschiedene Verkostungen und Menüs an – von einem Drei-Gänge-Menü und einem Frühstück im Dunkeln über Cocktail-, Wein- und Whisky-Tastings. Käse- und Schokoladenverkostungen verwöhnen darüber hinaus den Gaumen. Ungewöhnlich mag auf den ersten Blick das Pizzaessen im Dunkeln wirken. Warum ausgerechnet Pizza? „Viele glauben, Pizzaessen im Dunklen wäre total einfach. Essen Sie mal eine Pizza im Dunkeln – das ist Schwerste“, sagt Brendel. Für die Veranstaltungen kommen die Besucher von weit her, teils aus hunderten Kilometern Entfernung, teils aus dem Ausland.

Die Idee

Die Idee zum Dunkelkaufhaus, das 2008, also vor zehn Jahren, eröffnet wurde, hatte der Wetzlarer Initiator und Ideengeber Professor Jürgen Erbach nach einem Besuch einer ähnlichen Einrichtung in Wien. Die Dunkelheit hatte ihn damals so berührt, dass er ein solches Projekt in seine Heimatstadt holen wollte. Doch warum eigentlich Dunkelkaufhaus? „Nun, das Konzept war ein anderes“, erinnert sich Thomas Brendel, der seit Anfang an zum festen Team gehört. Dieses änderte sich kurzfristig – der Name blieb, weil die Einrichtung bereits so beworben war. Außerdem liegt das Dunkelkaufhaus im Gebäude des ehemaligen Wetzlarer Kaufhauses Union, so dass der Begriff doch wieder passt. Getragen wird das Dunkelkaufhaus von einem Verein. Dieser hat zum Ziel, die Kommunikation zwischen blinden und sehenden Menschen zu fördern, denn alle Guides sind blind oder sehbehindert. Für die blinden Menschen soll so ein Arbeitsplatz entstehen. Aber: „Wir wollen damit nicht zeigen, wie die Welt auf Blinde wirkt“, sagt Thomas Brendel – „das kann man gar nicht“. Vielmehr gehe es darum, Sinne zu schärfen, wahrzunehmen und zu erleben, wie sich völlige Dunkelheit anfühlt.

Kontakt, Termine und Öffnungszeiten:

Dunkelkaufhaus, Karl-Kellner-Ring 48 – 50, 35576 Wetzlar

Gruppen bis maximal zwölf Personen können individuelle Führungstermine vereinbaren. Öffentliche Führungen im Dunkelkaufhaus finden täglich außer Montag und Mittwoch um 17 Uhr statt.

Eintrittspreise: Erwachsene 10 Euro (ermäßigt 9), Kinder 6 Euro (ermäßigt 5 Euro). Ansprechpartner Thomas Brendel, Telefon 06441-2091529, Handy: 0163-4691810.